Archiv
José Gomes
Über den Wipfeln
Text von Dr. Carla Cugini, Geschäftsführerin der Gesellschaft für Moderne Kunst am Museum Ludwig Köln:
Synergien und Spannungsfelder
José Gomes setzt in seinen jüngsten als Brincadeiras (Spielerei) betitelten Arbeiten sein künstlerisches Oeuvre konsequent fort. Zugleich fließen hier verschiedene Stränge seiner inhaltlichen und formalästhetischen Interessen zusammen, wie er selbst sagt: „Auf verschiedenen Ebenen kommt bei den Brincadeiras für mich alles zusammen, woran ich bisher gearbeitet habe“ - von der intensiven Auseinandersetzung mit Druck, Zeichnung und Objekt, von dem Spiel mit Serie und Variation, von dem Interesse für Figuration und Abstraktion.
In den Brincadeiras verbindet José Gomes die Zeichnung mit einer speziellen Technik des Druckes, hier kreiert er Werke, die von Wiederholung und Unterschied zugleich geprägt sind, hier bringt er Motive der indigenen Kulturen mit Themen der Natur, ihrer Zerstörung und ihrer Bewahrung zusammen, sodass aus diesen Spannungsfeldern vielschichtige, kraftvolle Werke entstehen, die den Betrachtenden eine partizipative Rolle zuweisen.
Mit den Brincadeiras geht Gomes jedoch einen Schritt weiter als in seinen der Serie Abgrenzung (2017) vorangehenden, mit Tusche und Acryl gemalten Zeichnungen. Darin hat er Figuration und Abstraktion kombiniert, indem er über oder neben paradiesisch anmutenden Pflanzenstudien geometrische Formen zeichnet, die aufgrund ihrer gelben Farbe wie Bildstörer oder Warnsignale wirken. Bereits in diesen Arbeiten überführt Gomes das Konzept der Naturzeichnung in unsere heutige, technologisierte Welt: Er verwendet als visuelle Quellen beispielsweise Drohnenbilder, die über den brasilianischen Urwäldern entstanden sind, um dessen Zerstörung zu dokumentieren. Diese Quellen findet José Gomes dank intensiver Recherchen im Internet – mittlerweile verfügt er über ein Archiv unzähliger solcher Bilderdokumente.
Bei den Brincadeiras verwendet der Künstler ebenfalls Drohnenbilder, die er nun als Ausdrucke – und dies ist neu – mit der Zeichnung zusammenführt. Die verwendeten Ausschnitte der Drohnenaufnahmen, die überwiegend aus Brasilien stammen, zeigen idyllische, aber auch zum Teil sich bereits im Zustand der maschinellen Rodung oder im Brand befindender Urwaldwälder. Diese Aufnahmen lässt Gomes in Laserqualität drucken und transferiert sie dann mittels einer speziellen Technik auf Papier. Er trägt Nitroverdünnung auf die Laserdrucke auf und presst diese dann auf weißes Papier – auf den maschinellen Laserdruck folgt also ein manueller Druck. Häufig verwendet er ein und dieselbe Aufnahme mehrfach, sodass sich je nach Kunstwerk die Ausschnitte der Baumwipfel wiederholen. Zum Teil sieht man diese in unterschiedlichen Farbintensitäten, sie haben einen Graustich oder wirken wie durch Nebel verschleiert, dann wiederum so, als ob die Sonne einen bestimmten Flecken ins Auge gefasst hätte und diesen erhellt. Die Farbvariationen rühren von dem Transfer des Laserdrucks auf Papier und entstehen zufällig, ein Vorgang von besonderer Spannung für den Künstler: „Dieses Moment des Einmaligen interessiert mich, wenn beim individuellen Transfer des technologisch hergestellten Bildes eine Variation desselben Motivs entsteht.“
Die Wipfel bilden den Bildhintergrund, über die Gomes mit Bleistift präzise, meist großformatige geometrische Formen oder Flächen zeichnet. Je nach Intensität der Zeichnung erzeugt er mit dem Graphit des Bleistifts ein zartes Grau oder ein intensives, dunkles, in die Tiefe gehendes Schwarz. Die Formen und Linien reichen teilweise über die gesamte Bildfläche, sie sind unübersehbar und je nach Farbgebung sehr dominant. Zum Teil ist das Formenrepertoire global leicht zu erkennen – große, rechteckige schwarze Flächen etwa, die an Fußballfelder erinnern. Andere Formen und Muster stammen aus der Kunst der Körpermalerei, der Keramik- und Flechtkunst, von Schmuck und Ritualen von indigenen Bevölkerungsgruppen Brasiliens – sie sind also keine Referenzen an die abstrakte Moderne, wie man versucht ist zu meinen. Diese visuellen Quellen findet der Künstler in Publikationen, nach denen er unter anderen in den Beständen der Nationalbibliothek oder des Museu do Índio recherchiert.
José Gomes führt seine Zeichnungen so aus, dass sie einem Druck zum Verwechseln ähnlich anmuten – man muss schon sehr genau hinsehen, um zu erkennen, dass es sich um meisterlich ausgeführte, präzise Zeichnungen handelt. Diese Wirkung ist beabsichtigt, denn für Gomes haben Druckgrafik und Zeichnung denselben Stellenwert: „Walter Benjamins Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit hat mich seit meinem Studium sehr beeinflusst, als ich anfing, mich der Druckgrafik zu widmen und die Idee der Reproduktion als Einzelstück annahm. Der Text ist für mich immer noch sehr aktuell, vor allem im Hinblick auf das Konzept meiner Arbeit.“
Im letzten Schritt dann montiert José Gomes die Papierarbeiten auf industriell hergestellten, dreidimensionalen Holzformen, die in bestimmten standardisierten Formaten im Handel für den Malbedarf erhältlich sind. Die Papierarbeiten erhalten so letztlich einen Objektcharakter und die Kunstwerke sind oftmals mehrteilig (meist zwei- bis vierteilig). Der Künstler gibt nicht vor, wie die Elemente zusammengesetzt werden sollen, dies überlässt er den Betrachtenden. Je nachdem, wie man die einzelnen Holzobjekte zusammenfügt, entsteht ein anderes Bild. Durch diese spielerische Beteiligung der Betrachtenden macht Gomes klar, dass er seinen Werken eine inhärente Möglichkeit zur Veränderung geben möchte. „In Diptychen und Polyptychen kann das Werk auf verschiedene Weise neu gruppiert werden, wobei die Komposition transformiert, aber ihre Plastizität erhalten bleibt. Zeichnung ohne Rahmen, ohne Passepartout, ohne Glas. Ein Spiel mit dem Konzept. Ein Spiel mit den Tatsachen“, so Gomes.
So schön und verlockend die Kompositionen wirken, so ernsthaft und abgründig ist dieses Spiel mit den Tatsachen. Die Brincandeiras machen uns auf unseren paradoxen Umgang mit der Natur aufmerksam, sie erinnern uns daran, woher wir als Menschen kommen, aus welcher Vielfalt an Kulturen und Fertigkeiten. Sie erlauben uns, selbst zu bestimmen, wie die Komposition letztlich aussehen soll, ob heiter oder düster, je nachdem, wie wir die Elemente zusammensetzen. Und sie ermuntern uns, jede Variation als einzigartige Chance zur Veränderung zu sehen.
José Gomes
Über den Wipfeln / Over the Treetops / Sobre as Copas
"Künstlerisches Plädoyer für den Urwald und die Anerkennung seiner Bewohner mit ihrer unersetzlichen Kultur"
Umwelt, Entwicklung, Gewalt, das Schicksal der Menschheit und des Planeten sind einige der Themen, mit denen sich José Gomes künstlerisch auseinandersetzt. Der Inhalt seiner Kunst konzentriert sich auf die Landschaft, das Handeln des Menschen in der Natur und das Paradox zwischen seiner Abhängigkeit von der Natur und seinen destruktiven Vorgehensweisen. Die wissenschaftlich investigativen Luftaufnahmen durch Drohnen und Satelliten von Wäldern vor und nach der Kahlschlag werden auf Papier übertragen und mit Graphitschichten in geometrischen Formen beschichtet – ein zeichnerischer Umgang von und mit der Natur.
Aus dem Vorwort von Bernd Melzer:
Das vorliegende Buch Über den Wipfeln ist ein Plädoyer für den Urwald und die Anerkennung seiner wahren Herren mit ihrer unersetzlichen Kultur, die machtlos sind gegenüber der Ausbeutung einer Fremdherrschaft, die sich als Staaten über sie ausgebreitet hat. Es soll uns daran erinnern, wie sehr wir bei aller Entfernung selbst systemrelevant sind und auf die Zukunft der Wälder Einfluss nehmen können.
Aus der Einführung von Ralf-P. Seippel:
José Gomes ist ein Zeichner, ein Beobachter, der mit feinstem Strich die uns umgebende Welt abbildet. Mit Bleistift und Papier verweist er auf die Welt und ihre Verfasstheit. Über das reine Abbilden hinaus sensibilisiert er uns und lenkt in dieser Werkgruppe Über den Wipfeln unsere Wahrnehmung auf den Wald, genauer den Ur-Wald und seine dramatische Veränderung. Die Beschäftigung mit dem Wald wird häufig als romantisch verklärtes, deutsches Thema beschrieben; José Gomes globalisiert diese Waldsicht. Er nutzt Luftaufnahmen des Urwaldes als Grundlage für seine Überzeichnungen. Diese Überzeichnungen visualisieren den durch Menschenhand verursachten Ein- und Übergriff. Die zarte Zerbrechlichkeit des ökologischen Biotops Urwald wird in dem Kontrast von individueller, amorpher Naturform und serieller indigener geometrischer Formensprache deutlich.
José Gomes wurde 1968 in Cariacica, Espírito Santo, Brasilien, geboren. Dort studierte er Bildende Kunst an der Bundesuniversität von Espírito Santo. Zwischen 1992 und 1999 nahm er an künstlerischen Aufbaukursen bei renommierten brasilianischen Künstler*innen und Theoretiker*innen wie Milton Machado, Katie Van Schepenberg, Tadeu Chiarelli, Ivens Machado, Marcos Coelho Benjamim, Rodrigo Naves und Carlos Fajardo teil. Von 1996 bis 2000 lehrte er als Professor an der Bundesuniversität von Espírito Santo. Im Jahr 2000 organisierte und kuratierte er die 1. Internationale Druckgraphikausstellung Vitória im Museu de Arte do Espirito Santo (MAES). Von 1994 bis 2005 widmete er sich als Mitglied der Varal Druckgraphik- Gruppe ausschließlich dieser Technik. Zwischen 2004 und 2005 studierte er bei AR Penck an der Düsseldorfer Kunstakademie. Seit 2005 lebt er in Köln. Seine Werke wurden in zahlreichen Ausstellungen in Brasilien, Lateinamerika, Deutschland, Spanien und USA gezeigt.
Das Buch aus dem Kehrer Verlag erscheint zur Ausstellung und kann in der Galerie Biesenbach erworben werden. Sie erreichen uns auch per Mail unter art@galerie-biesenbach.com.
Herausgegeben von Bernd Melzer, Ralf-P. Seippel
Texte von Tereza de Arruda, Carla Cugini, Bernd Melzer, Ralf-P. Seippel
Gestaltet von hackenschuh com. design, Stuttgart
Festeinband, 29 x 24 cm
128 Seiten, 65 Farbabbildungen
Deutsch, Englisch, Portugiesisch
ISBN 978-3-96900-023-6
30,- € (zzgl. Versandkosten)